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Start Verschwörungsideologien Grundsätzliches Was ist eine Verschwörungstheorie – und was nicht?

Was ist eine Verschwörungstheorie – und was nicht?

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So sahen die Nazis die jüdische Weltverschwörung 1941 Versuch einer Begriffsklärung

Verschwörungstheoretiker mögen das Wort „Verschwörungstheorie“ nicht. Für sie handelt es sich um eine Totschlagvokabel zur Diskreditierung nonkonformistischer Ansichten, mehr nicht.

Seine sachliche Bedeutung ist ihnen in der Regel weitgehend rätselhaft und in dem Versuch sich dagegen zu verteidigen verwenden sie es oft in allerlei unpassenden Zusammenhängen und erzeugen dadurch eine Begriffsverwirrung, die am Ende tatsächlich Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Wortes aufkommen lassen mag.

Für derartige Debatten erscheinen daher einige Klarstellungen angebracht.

Das erste Scheinargument der Verschwörungstheoretiker lautet meist, es könne doch nicht angehen, gesunde Skepsis, kritisches Hinterfragen und das Streben nach Aufklärung als Verschwörungstheorie abzuqualifizieren. Dem wird wohl jeder vernünftige Mensch nur zustimmen können, allerdings gibt es folglich wohl auch kaum jemanden, der so etwas tun wollte, so daß dieses „Argument“, das nichts anderes ist als eine haltlose Unterstellung, völlig an der Sache vorbeigeht.

Selbstverständlich ist das Streben nach Erkenntnis eine der edelsten Eigenschaften des Menschen, gegen die niemand etwas einzuwenden haben sollte.

Allerdings hat das kaum etwas mit Verschwörungstheorien zu tun.

Wir können also als erste Klarstellung festhalten: Der Begriff Verschwörungstheorie bezieht sich nicht auf die Anwendung der kritischen Vernunft.

Warum ist diese Klarstellung überhaupt erforderlich?

Weil Verschwörungstheorien normalerweise nicht in Form von simplen Behauptungen, sondern in Gestalt von scheinbar kritischen Fragen daherkommen. Ihr Signum ist die Skepsis, der Zweifel am Augenscheinlichen, die Suche nach verborgenen Zusammenhängen. Diese Haltung ist zwar die Grundlage jedes menschlichen Forschungsdrangs, wird aber in der Verschwörungstheorie bis zum Exzess gesteigert: das Mißtrauen gegen den bloßen Augenschein steigert sich zum Mißtrauen gegen die bloße Empirie: Verschwörungstheoretiker lokalisieren das wahre Sein nicht im Schein, sondern dahinter: eben im Reich der Theorie. Deswegen nennt man sie ja zu Recht Theoretiker (wobei es sich selbstredend nicht um eine Theoriebildung im wissenschaftlichen Sinne handelt, da die empirische Grundlage fehlt). Die Wahrheit suchen sie nicht auf der Ebene des Sichtbaren, sondern auf der des Vorstellbaren. Im Grunde sind die Verschwörungstheoretiker die letzten Metaphysiker. Die eigentliche Wirklichkeit liegt für sie verborgen im Unsichtbaren. Diejenigen unter ihnen, die sich nicht, wie die popkulturellen Konspirationisten der Postmoderne, als konsequente Agnostiker auf eine bloß spielerische Gehirnakrobatik beschränken, sondern sich selber ernst nehmen, werden damit zwangsläufig zu Gläubigen und die Verschwörungstheorie wird ihnen zum Religionsersatz.

Theorie oder Glaube?

Ernstgemeinte Verschwörungstheorie ist also eigentlich Verschwörungsglaube.

Eine Theorie ist widerlegbar, ein Glaube nicht. Das liegt daran, daß die wesentliche Grundlage des Glaubens nicht in Tatsachenbehauptungen besteht, sondern in Gefühlen, Einstellungen und Ahnungen. Deswegen ist es auch nicht wirklich der Sache angemessen, wenn der Konspirationismus als „Verschwörungsideologie“ bezeichnet wird. Verschwörungstheorie ist keine eigenständige Ideologie im Sinne eines kompletten Weltbildes. Sie ist ein Instrument zur Stützung von Ideologien. Sie will keine feststehenden, konkreten Inhalte vermitteln, sondern eine Grundhaltung: die des prinzipiellen Verdachts gegen das Sichtbare und des permanenten Verweisens auf das Unsichtbare. Diese paranoide Grundhaltung lässt sich in jedem ideologischen Kontext instrumentalisieren. Deshalb dienen Verschwörungstheorien sowohl rechtsextremen als auch linksextremen und religiös-fundamentalistischen Ideologen zur Untermauerung ihrer Weltanschauung. Immer wenn die sichtbare Realität die Ideologie in Frage zu stellen droht, können Verschwörungstheorien zur Anwendung kommen, um die unheimliche Realität zum bloßen Schein zu erklären und auf die dahinterliegende, „tiefere“ Wirklichkeit zu verweisen. Wie diese konkret aussieht, bleibt den jeweiligen ideologischen Vorlieben überlassen. Gerade weil sie nicht an konkrete Inhalte gebunden sind, sind Verschwörungstheorien ein ideales Instrument zur Querfrontbildung, da sie Menschen mit ganz unterschiedlichen weltanschaulichen Horizonten gleichermaßen anzusprechen vermögen.

VT ist die paranoide Suche nach "geheimen" Zusammenhängen jenseits aller Empirie

Wir können also als weitere Klarstellung festhalten: bei Verschwörungstheorien handelt es sich nicht einfach nur um verifizierbare oder falsifizierbare Tatsachenbehauptungen, sondern um stereotype Interpretationsmuster, Wahrnehmungs- und Denkschablonenen. Sie stellen nicht fest, sondern sie suggerieren. Die realen oder fiktiven Ereignisse, die ihnen dabei als Anschauungsmaterial dienen sind sekundär und austauschbar. Ihnen geht es nicht um Fakten (die bei ihnen zu bloßen Zeichen schrumpfen), sondern um Deutungen, genauer gesagt augurenhafte Andeutungen. Gerade aus dieser Offenheit erwächst ihre Anziehungskraft. Die Möglichkeiten ihrer Konkretisierung und Fortschreibung sind unbegrenzt und bleiben dem Rezipienten überlassen, dem die Schlussfolgerungen, die ihm nahegelegt werden, folglich als eigene Einsichten erscheinen, woraus ihre kaum zu erschütternde Überzeugungskraft erwächst.

Diese Begriffsverwirrung kommt leider oft ins Spiel, wenn sich Verschwörungstheoretiker mit dem Hinweis zu rechtfertigen versuchen, es hätten sich ja schon manche Verschwörungstheorien im Nachhinein als richtig herausgestellt. Wenn sich eine konkrete Mutmassung in Form einer Einzelfallhypothese als richtig erweist, was ja ohne weiteres möglich ist, so hat das noch lange nichts mit einer Verschwörungstheorie zu tun, die als solche immer mehr sein will als eine Einzelfallhypothese: sie impliziert stets einen prinzipiellen Generalverdacht, der als Paradigma für die Interpretation aller möglichen Ereignisse dient und der naturgemäß weder beweisbar noch widerlegbar ist, da er grundsätzlich auch dann aufrechterhalten werden kann, wenn er sich in Einzelfällen als unzutreffend erweisen sollte, da diese dann immer noch als Ausnahmen von der Regel gedeutet werden können.

Ist jede Lüge eine Verschwörungstheorie?

Genauso irrig ist die analoge Vorstellung, Verschwörungstheorien seien nichts anderes als falsche Tatsachenbehauptungen, etwa in Gestalt von Propagandalügen.

In diesem Zusammenhang wird dann gerne zum Beispiel auf die Nazi-Lüge vom polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz verwiesen. Diese wird als Verschwörungstheorie bezeichnet, die später widerlegt worden sei. Allerdings ist die Behauptung, daß etwas sich so abgespielt habe, wie es der Augenschein nahelegt, niemals eine Verschwörungstheorie. Wenn man unterstellt, der scheinbare Urheber eines Ereignisses, sei auch der tatsächliche, dann gibt es in diesem Szenario keine versteckten Drahtzieher im Hintergrund und auch keine Verschwörung. Es handelt sich einfach um eine Tatsachenbehauptung, in diesem Fall um eine bewusst falsche. Soetwas nennt man eine Lüge, aber nicht Verschwörungstheorie.

Heute weiß man, dass und wie die ganze Sache inszeniert wurde. Man kann dies eine Verschwörung nennen. Verschwörungstheoretiker verweisen gerne auf solche Beispiele, um zu belegen, daß es doch durchaus reale Verschwörungen gebe. Auch dies wird allerdings kein vernünftiger Mensch abstreiten und es hat nichts mit der Kritik am Verschwörungsglauben zu tun. Natürlich gehören und gehörten Geheimabsprachen, Inszenierungen, Täuschungsmanöver etc. immer und überall zum alltäglichen Geschäft der Akteure in Politik und Wirtschaft. Diese Feststellung ist eine Banalität. Und natürlich ist die Aufdeckung solcher geheimen Machenschaften ein ehrenwertes Ziel. Auch diese Feststellung ist eine Banalität.

Der Kurzschluss besteht allerdings darin, dass die Verschwörungstheoretiker die unbestreitbare geschichtliche Realität von Verschwörungen sowie das legitime Streben nach ihrer Aufklärung zur hinreichenden Rechtfertigung für den von ihnen gepflegten Generalverdacht erklären und damit ihre quasireligiöse Grundhaltung des „Nichts ist wie es scheint“ zu untermauern versuchen.

Im Zusammenhang mit dem schon erwähnten Beispiel des Angriffs auf den Sender Gleiwitz wird dann zum Beispiel erklärt: „Hätte man damals gesagt, dass es die Nazis selber waren, dann wäre das von vielen als Verschwörungstheorie abgetan worden. Heute weiß man aber, daß diese „Verschwörungstheorie“ richtig war.“ In dieser Argumentation wird allerdings der Begriff der „Verschwörungstheorie“ bis zur Unkenntlichkeit verengt. Denn natürlich ist es noch lange keine Verschwörungstheorie, wenn man versucht, durch kritische Investigation und rationale Analyse die realen Hintergründe eines Ereignisses aufzuklären. Selbst ein auf ein konkretes Ereignis bezogener begründeter Verschwörungsverdacht ist, wie bereits gesagt, noch lange keine Verschwörungstheorie. Dazu wird er erst, wenn er sich zum faktisch unbegründeten Generalverdacht auswächst, der sich dann je nach Einzelfall die passenden Gründe sucht oder konstruiert. Eine Einzelhypothese ist noch keine Theorie. Diese entsteht erst, wenn eine Reihe von Einzelhypothesen zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden, welches als Grundlage für Vorhersagen dient.

Verdacht als Erkenntnisprinzip: Die Ahnung  von den wirklichen Drahtziehern

Verschwörungstheoretiker sind Menschen, die bei jedem Ereignis instinktiv sofort zu wissen glauben, wer „wirklich“ dahintersteckt. Im Grunde wissen sie es schon, bevor ein Ereignis überhaupt eingetreten ist. Die konkrete Benennung der heimlichen Drahtzieher der Geschichte ist abhängig von der jeweiligen persönlichen Ideologie: die internationale Hochfinanz, die Freimaurer, die Satanisten, die Zionisten, oder was immer das Herz begehrt. Im Endeffekt lässt es sich allerdings meist auf einen gemeinsamen, letztlich für alle akzeptablen Nenner bringen: in der Regel sind die geheimen Hintermänner, die es zu entlarven gilt, fast immer Juden: sie stecken angeblich hinter der US-Regierung, der Finanzindustrie, den Medien, dem Imperialismus, dem Zionismus, der Kriegstreiberei, dem Wucher, der Ausbeutung, der Unterdrückung, der Lüge, der Unmoral usw. Dies wird allerdings im Kontext von Verschwörungstheorien gar nicht unbedingt so ausdrücklich ausgesprochen. Normalerweise bleibt es bei Andeutungen, die zu eigenen Schlußfolgerungen einladen. Dort wo es ausgesprochen wird, verlassen wir den Bereich der Verschwörungstheorie und betreten den Bereich der Propaganda. Und Propaganda, als aktive Verbreitung einer Ideologie, kann zwar von Verschwörungstheorien Gebrauch machen, ist aber nicht mit ihnen gleichzusetzen.

Deshalb wird die Mehrheit der Verschwörungstheoretiker nötigenfalls nicht zögern, sich von ausdrücklichen Propaganda-Behauptungen zu distanzieren, wie etwa der These hinter dem 11. September stünden natürlich eindeutig CIA und Mossad. Ein echter Verschwörungstheoretiker mag dies zwar denken, aber er spricht es nicht aus, denn damit würde er sich angreifbar machen. Eine Behauptung, die explizit ausgesprochen wird, ist angreifbar. Sie bedarf des Beweises und den kann der Verschwörungstheoretiker nicht erbringen. Deshalb beschränken sich die intelligenteren Verschwörungstheoretiker auf das, was ihre eigentliche Domäne ausmacht: die Andeutung, die Mutmaßung, den Verdacht. Das macht sie unangreifbar.

Ich erinnere an die weiter oben schon festgehaltenen Klarstellungen:

Eine Verschwörungstheorie manifestiert sich nicht in der Feststellung einzelner Tatsachen, sondern in der spekulativen Konstruktion größerer Zusammenhänge.

Eine Verschwörungstheorie ist nicht auf einen ideologischen Inhalt festgelegt, sondern sie ist eine Grundhaltung des generalisierten Verdachts, die in verschiedenen idologischen Zusammenhängen instrumentalisiert werden kann.

Wer denn nun die Verdächtigen sind, das kann und soll sich jeder selber denken, je nach weltanschaulichem Hintergrund. Diese ideologische Offenheit macht die Stärke und Anziehungskraft von Verschwörungstheorien aus.

Wenden wir uns zur Veranschaulichung einem weiteren Beispiel zu, das von Verschwörungstheoretikern gerne ins Feld geführt wird: dem Reichstagsbrand.

Verschwörungstheoretiker argumentieren hier wieder einmal zweigleisig:

Die von den Nazis in die Welt gesetzte Behauptung, die Kommunisten steckten dahinter, sei eine Verschwörungstheorie gewesen.

In Wirklichkeit seien es die Nazis selber gewesen, wie man heute wisse. Hätte man das damals gesagt, dann wäre man wohl als „Verschwörungstheoretiker“ verlacht worden.

Aufgrund der bereits erfolgten Klarstellungen lässt sich unschwer erkennen, daß an dieser Argumentation einfach alles falsch ist:

Die Schuldzuweisung an die Kommunisten war keine Verschwörungstheorie, sondern eine Propagandalüge.

Und die Entlarvung der Nazis als der wahren Urheber des Ereignisses ist einfach nur eine Geschichts-Hypothese, für die sich wohl Argumente ins Feld führen lassen, die aber unter Historikern bis heute umstritten ist.

Mit Verschwörungstheorie hat beides absolut nichts zu tun.

Diese argumentative Konstruktion ist geradezu schizophren, weil der Begriff „Verschwörungstheorie“ hier in zwei einander widersprechenden Bedeutungen verwendet wird, die alle beide falsch sind: einerseits wird der Begriff eingeengt und verschoben, indem er fälschlich mit „Propagandalüge“ gleichgesetzt wird, andererseits wird er dort als Vorwurf unterstellt und kritisiert, wo er ebenfalls nicht anwendbar ist und auch so von niemandem angewendet wird, nämlich wo es um die Infragestellung und Aufklärung solcher Propagandalügen geht.

Von den Leuten die den Unterschied zwischen Propagandalügen und Verschwörungstheorien nicht zur Kenntnis nehmen, und die meist selber Verschwörungstheoretiker sind, sich aber gerne als Gegner von Verschwörungstheorien bezeichnen, weil ihrer Meinung nach unter Verschwörungstheorien lediglich regierungsamtliche Falschdarstellungen zur Irreführung der Bevölkerung zu verstehen sind, wird die Funktion von Verschwörungstheorien oft mit einer These erklärt, die auch für die meisten Kritiker von Verschwörungstheorien zustimmungsfähig erscheint:

Die Funktion von Verschwörungstheorien sei die Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse.

Leider ist auch diese Aussage ein ausgesprochener Quatsch.

Die Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse mag unter Umständen eine Wirkung von Verschwörungstheorien sein, aber es ist niemals ihre Funktion.

Kein normaler Mensch verfällt doch dem Verschwörungsglauben, weil er an einer Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse interessiert ist. Das Gegenteil ist der Fall. Verschwörungstheorien dienen als Rettungsanker für Menschen, die ihre weltanschauliche Orientierung gefährdet sehen.

Verschwörungstheorien fanden ihren Nährboden stets in durch historische Umbrüche abstiegsbedrohten gesellschaftlichen Gruppen, deren traditionelles Weltbild die neuen Realitäten nicht mehr zu integrieren vermochte und dadurch ins Wanken geriet.

Indem sie suggeriert, dass hinter unbegreiflichen äußeren Ereignissen doch immer nur diejenigen stecken, von denen man sowieso immer schon dachte, dass sie an allem Bösen schuld sind, vermag Verschwörungstheorie eine unsicher gewordene Ideologie zu stabilisieren, indem sie es ermöglicht, die sichtbaren Veränderungen, die die alten Gewissheiten in Frage zu stellen drohen, weil sie in ihrem Rahmen nicht mehr erklärbar sind, auf unsichtbare Ursachen zurückzuführen, die der gewohnten Vorstellungswelt entsprechen und diese damit bestätigen. So wird die Verschwörungstheorie zum Rettungsanker für die bedrohte Ideologie, indem sie die Überlegenheit des Gedankens über den Augenschein suggeriert.

Wir können also als letzte Klarstellung festhalten:

Die Funktion von Verschwörungstheorien besteht in der Rettung untauglich gewordener Ideologien vor den Zumutungen der Wirklichkeit.

Diese Funktion könnte man als zutiefst konservativ bezeichnen.

Die französische Revolution hatte das Weltbild von Adel und Klerus in Frage gestellt, die Freimaurerverschwörung lieferte einen Deutungsansatz, der erlaubte, das Unbegreifliche in die gewohnte Vorstellungswelt zu integrieren und die Welt in beruhigend vertrauter Weise begreiflich erscheinen zu lassen.

Die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Moderne führten zu einer tiefgreifenden Erschütterung traditioneller Weltbilder. Die jüdische Weltverschwörung lieferte einen Erklärungsansatz, der die verlorene Orientierung mittels gewohnter Sündenbockvorstellungen wiederherzustellen schien.

Das Ende des Kalten Krieges führte zu einem drohenden Verlust vertrauter politischer Maßstäbe; durch die Verschwörungstheorien zum 11. September werden alte Gewissheiten und Feindbilder wieder zum Leben erweckt.

Ein Beispiel aus dem Alltag

Unlängst erlebte ich auf einer Diskussionsveranstaltung, wie ein bekannter Altkommunist ein Plädoyer für Verschwörungstheorien hielt:

Er führte eine lange Liste von „Verschwörungstheorien“ auf, die sich – in seinen Augen – samt und sonders im Nachhinein als richtig erwiesen hätten:

- 1898: Versenkung der USS Maine: Auslöser für den spanisch-amerikanischen Krieg: von den USA selbst inszeniert

- 1933: Reichstagsbrand: Vorwand für die Kommunistenverfolgung: von den Nazis selbst inszeniert

- 1939: Angriff auf den Sender Gleiwitz: Vorwand für den Angriff auf Polen: von den Nazis selbst inszeniert

- 1941: Pearl Harbour: Vorwand für den Eintritt der USA in den Weltkrieg: von den USA selbst inszeniert

„Heute sind alle diese Zusammenhänge erwiesen“ behauptete er fälschlicherweise, „und die Verschwörungstheoretiker haben Recht behalten. Und die Zukunft wird zeigen, dass wir auch in Bezug auf 9/11 Recht haben.“

Zum Abschluss erwähnte er auch noch den Attentatsversuch von Detroit (25. 12. 2009). Auch hier könne man sich denken, wer wirklich dahinter stecke, meinte er. Und auch hier werde man Recht behalten. Verschwörungstheorien seien immer nur ein Mittel zur psychologischen Kriegsvorbereitung gewesen.

Ein anderer Diskussionsteilnehmer entblödete sich nicht, diesen Ball aufzugreifen und die „Verschwörungstheorie von den angeblichen Wahlmanipulationen im Iran“ als weiteres Beispiel für solche mediale Kriegsvorbereitung anzuführen.

Es handelt sich hier um ein erschreckendes Beispiel für den verschwörungstheoretischen Diskurs in Teilen der Linken.

Anhand der oben vorgenommenen Klarstellungen können wir erkennen, daß diese Leute erstens überhaupt nicht wissen, was der Begriff „Verschwörungstheorie“ eigentlich bedeutet, und dass sie zweitens selber zutiefst von verschwörungstheoretischem Denken durchdrungen sind, was ihre Fehlinterpretation dieses von ihnen ungeliebten Wortes erklären mag.

Sie versuchen dem Begriff seinen Stachel zu nehmen, indem sie ihn in ihrem Sinne umdeuten und den Vorwurf dorthin weiterreichen, wo der Begriff zwar gar nicht passt, aber eine mit dem konspirationistischen Weltbild kompatible Bedeutung annimmt, indem sie die vermeintlichen Verschwörer zu den wahren Verschwörungstheoretikern erklären, was ihnen erlaubt, ihre eigenen Verschwörungstheorien (die im Sinne des Begriffes tatsächlich welche sind) als gegen nur von ihnen so bezeichnete "Verschwörungstheorien" (die im eigentlichen Wortsinne gar keine sind) gerichtete Aufklärung auszugeben.

„Wir können uns schon denken, wer dahinter steckt“ und „Wir haben noch immer Recht behalten“ sind die charakteristischen Aussagen, die Wesen und Funktion des Verschwörungsglaubens anschaulich werden lassen.

Nachdem das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch der „realsozialistischen“ Staaten ihr Weltbild in Frage gestellt hat , greifen Betonstalinisten zum Mittel der Verschwörungstheorien, um ihre alten Gewissheiten in einer veränderten Welt am Leben halten zu können:

„Der Augenschein trügt, es ist alles ganz anders als es aussieht, unsere Vorstellungen waren immer schon richtig und werden sich auch in Zukunft als richtig erweisen!“ So denken sie.

Mit Aufklärung und Vernunftgebrauch, mit linker Tradition also, haben derart primitive Formen politischer Religiosität natürlich nichts mehr zu tun.

Besonders unappetitlich wird es, wenn sich vermeintlich „Linke“ aus dem gleichen verschwörungstheoretischen Fundus bedienen wie Rechtsextremisten und islamistische Fundamentalisten, wie es bei den 9/11-Verschwörungstheorien der Fall ist.

Eine authentische Linke muß sich deshalb von dieser Querfront des verschwörungstheoretischen Irrationalismus mit aller Klarheit und Entschiedenheit distanzieren.

Literatur:

K25 Daniel Kulla: Entschwörungstheorie, Löhbach 2007

B22 Johannes Rogalla von Bieberstein: Der Mythos von der Verschwörung, Wiesbaden 2008

J09 Tobias Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September 2001, Münster 2004

Zuletzt aktualisiert am Freitag, den 15. Januar 2010 um 18:45 Uhr

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Eine interaktive Übersicht über die Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland mit zahlreichen Einzelheiten hat der Tagesspiegel hier zusammengestellt.

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Schlagzeilen Verschwörungstheorien

Was ist eine Verschwörungstheorie – und was nicht?

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